Malu spürte, wie sie jemand unsanft an der Schulter rüttelte.
„Malu? Malu, wach auf! Wir müssen los. Es ist soweit!“
Abrupt fuhr sie aus dem Schlaf hoch und schlug die Augen auf. Vor ihr sah sie das aufgeregte Gesicht ihres Freundes Reshi. Sie blickte durch das offenstehende Fenster ihres Kinderzimmers, durch welches ihr Freund hereingeklettert war. In der Ferne sah sie einen unruhig flackernden roten Schein am Himmel. Ein Schimmer, der die Stadtbewohner seit Wochen begleitete, seitdem die Natur ringsum zu brennen begonnen hatte. Seitdem zog stetig ein beißender Rauch- und Brandgeruch durch die Straßen. Zunächst hatte man im Stadtrat heftig darüber diskutiert, die Einwohner evakuieren zu lassen, musste aber von diesem Plan bald ablassen, da es in den umliegenden Ortschaften genauso schlimm aussah. Reshi warf Malu ihren Rucksack auf die Bettdecke.
„Sie haben eben im Radio durchgesagt, dass ein gewaltiger Tsunami im Anmarsch ist. Und die Meere sind einen weiteren halben Meter gestiegen. Wir müssen uns beeilen.“
Malu nickte und krabbelte aus ihrem Bett. Da hörten sie hastige Schritte aus dem Erdgeschoss nach oben kommen. Malus Mutter riss die Zimmertür auf.
„Malu!“, rief sie sichtlich beunruhigt. Sie stutzte verblüfft, als sie den unerwarteten nächtlichen Besucher bemerkte. Aber sie war sichtlich zu aufgelöst, um sich allzu viele Gedanken darüber zu machen, was der Junge um drei Uhr morgens im Zimmer ihrer Tochter zu suchen hatte. Stattdessen murmelte sie nur kurz:
„Oh hi, Reshat.“
Dann wandte sie sich wieder ihrer Tochter zu. Sie sah auf die Tasche in Malus Hand.
„Sehr gut. Pack deine Sachen zusammen. Wir müssen in den Bunker.“
Sie drehte sich zu Malus Freund um.
„Reshat, du solltest auch schnellstens nach Hause und das gleiche tun. Deine Eltern sorgen sich bestimmt schon um dich!“
Mit den Worten hastete die Mutter wieder aus dem Zimmer und trappelte die Treppe in die Küche hinunter. Man hörte sie dort geschäftig Schubladen aufziehen und Schränke öffnen. Reshi blickte zu Malu hinüber, die ihm im Einverständnis zunickte.
„Alles klar. Wir sehen uns am Treffpunkt!“
Daraufhin kletterte Reshi aufs Fensterbrett und schwang die Beine nach draußen. Dann glitt er geschmeidig an dem Efeugitter, welches an der Hauswand befestigt war, hinunter.
Malu begann nach ihrer Liste zu packen. Alle vom „Schwarzen Raucher“ hatten schon vor Wochen Aufzählungen verfasst, mit Dingen, die sie im Notfall benötigen würden. So hatte Malu in kürzester Zeit ihre Aufgabe erledigt. Als sie fertig war, warf sie noch einen kurzen Blick in ihrem Zimmer herum und steckte kurzentschlossen noch ihren alten Teddybären in die Tasche. Dann lief sie zu ihrer Mutter hinunter, um sich von ihr zu verabschieden.
Sie hatten versucht, das Unvermeidliche aufzuhalten. Die älteren Kinder waren auf Demonstrationen gegen Klimawandel, Konsumwahn und Plastikverpackungen gegangen. Die Jüngeren hatten sich zunächst geweigert, weiterhin von ihren Eltern mit dem Auto gefahren zu werden und dann randaliert, wenn tierische Lebensmittel auf den Tisch kamen. Die Erwachsenen hatten die Kinder für ihr Engagement gelobt, aber sonst war nicht viel passiert. Niemand nahm sie ernst genug. Stattdessen schmiedeten die Politiker weiter ihre Zwanzig-Jahres-Pläne und machten viele leere Worte im Bundestag und auf Pressekonferenzen, die kaum Konsequenzen nach sich zogen. Es lief ihnen die Zeit davon. Den Kindern hatte es irgendwann einfach gereicht. Lange bevor die Erwachsenen sich der mit Meilenstiefeln heraneilenden Gefahr bewusst wurden, begannen die meisten Schüler und Kindergartenkinder sich in Gruppen zu organisieren und vorzubereiten.
Bei einer der Gruppenversammlungen kam die Frage auf, was mit den ganzen Tieren geschehen würde, wenn die Hitzewellen, Tornados und Überschwemmungen immer heftiger wüteten. Würden sie überleben können? Würden sie sich den neuen klimatischen Bedingungen anpassen können? Keiner von ihnen hatte eine Antwort darauf. Sie entwarfen verschiedene Pläne, wie sie den Tieren helfen könnten. Aber bald mussten sie erkennen, dass es ihre Kräfte und Möglichkeiten überstieg, alle Tierarten zu retten. Irgendeiner von ihnen – keiner konnte sich mehr erinnern, wer es gewesen war – hatte schließlich die Idee, dass jedes Kind Pate eines Tieres werden sollte. Die Tiere sollten per Losverfahren verteilt werden, damit es nicht am Schluss nur Favoriten wie Delphine oder Pferde gab. Die Aufgabe eines jeden sei dann nach der Ziehung, sein jeweiliges Tier so gut wie möglich kennenzulernen und zu versuchen, die Eigenschaften seines Patenkindes anzunehmen. Jedes Kind wäre dann zwei Lebewesen in einem, sowohl Mensch als auch sein Tier. Außerdem sollten entsprechend der besonderen Fähigkeiten des jeweiligen Patentieres jedem Kind Aufgaben in ihrer Gemeinschaft zugeteilt werden. Der Vorschlag wurde mit Begeisterung angenommen. Malu hangelte sich einen Zettel aus dem großen Topf mit Losen und zog die Termiten. Am Anfang war sie darüber sehr enttäuscht. Aber nachdem sie sich mehrere Dokumentationen und Bücher über die Insekten angesehen hatte, musste sie ehrlich zugeben, dass sie keinen schlechten Griff gemacht hatte. Termiten sind nämlich wahre Baumeister und nachdem die Kinder einige Höhlen unweit der Stadt als ihren zukünftigen Unterschlupf ausgewählt hatten, wurde es Malus Aufgabe, in ihnen Behausungen für die Kinder zu planen und zu errichten. Wenn sie erst einmal eingezogen sein würden, wäre Malu dafür zuständig, diese instand zu halten, auszubessern und zu reparieren. Und falls irgendetwas anderes gebaut werden müsste, wäre sie ebenfalls verantwortlich dafür. Malus Arbeit war also eine sehr Wichtige und das gefiel ihr. Unterstützt wurde sie bei dieser gewaltigen Aufgabe durch Freunde, die ebenfalls Tiere gezogen hatten, die gute Konstruktionseigenschaften besaßen. Dazu gehörten unter anderem ihr guter Freund Reshi, dessen Patentier der Otter war, sowie Wenwen, die Füchsin, Finnegan, der Hornisserich und Glinda, die Maulwürfin. Reshi verlieh ihr eines Tages den Titel „Termiten-Prinzessin“, nachdem sie ihm erzählt hatte, dass allen Termitenvölkern eine Königin vorstand. Malu war allerdings erst zehn Jahre alt, darum befanden Reshi und sie, dass „Prinzessin“ besser zu ihr passte. Da viele Termiten Flügel besitzen, brachte Reshi ihr eines Tages anstatt einer Krone ein paar Flügel aus einem schillernden Gazestoff mit und schnallte sie ihr wie einen Rucksack um. Seitdem ging Malu selten ohne sie aus dem Haus. Bei ihren regelmäßigen Treffen sah sich die Baugruppe Videos zu ihrem Thema an, wälzte Bücher und sammelte Materialien, die ihnen für ihre Aufgabe nützlich erschienen. Dazu gehörten allerlei Dinge, die andere Leute achtlos in den Müll warfen, wie Plastikflaschen, Bretter oder sogar alte Autoreifen. Aber am meisten hatten sie Spaß, als sie anfingen, probeweise Sachen zusammenzubauen. Als sie schließlich ein paar gute Methoden für sich entdeckt hatten, trafen sie sich jedes Wochenende in der großen Höhle und bauten drauf los.
Die anderen Arbeitsgruppen funktionierten recht ähnlich wie diese. Es gab da zum Beispiel die Gemeinschaft der Seidenraupen, Spinnen und Gespinstmotten. Diese sammelten alte Kleidungsstücke, Textilien und Nähutensilien. Sie sollten die Gemeinschaft in Zukunft mit neuer Kleidung versorgen und in der Lage sein, alte Klamotten umzuarbeiten oder zu reparieren. Dann traf sich noch ein Landwirtschaftsgremium, wo die Tierpatenschaften aus Tieren wie Kaninchen, Wildschweinen und Yaks bestand. Ihr Spezialgebiet wurde das Sammeln von Saatgut sowie das Studium von Gemüseanbau, die Haltbarmachung von Lebensmitteln und Wissen über Vorratshaltung. Oder es organisierte sich eine Spähertruppe, zusammengesetzt aus Alligatoren, Raubtieren und Greifvögeln. Diese waren am Anfang des Projektes für die Jagd nach geeigneten Unterschlupfmöglichkeiten zuständig und sollten später, nach dem Einzug in die Höhlen, die Aufgabe übernehmen, regelmäßig auf Patrouille zu gehen, um fehlende Materialien aufzutreiben und den Schutz vor Eindringlingen zu gewährleisten. Unterstützt wurden sie dabei von der Schneiderwerkstatt, die ihnen spezielle Schutzkleidung gegen die mittlerweile extreme Sonnenstrahlung anfertigte.
Die Vollversammlung der Kinder entschied sich, ihr zukünftiges Zuhause den „Schwarzen Raucher“ zu nennen. Sie hatten von den gleichnamigen Hydrothermalquellen am Tiefseeboden gehört, die extrem heißes Wasser ausstoßen, welches Schwefelwasserstoff und unterschiedliche Metalle enthält. Wenn dieses dann mit dem kalten Meerwasser zusammentrifft, fallen schwarze, rauchartige Metallsulfide zu Boden und bilden Karminartige Gebilde. Und obwohl diese lichtlose, heiße Tiefe der „Schwarzen Raucher“ kein angenehmer Platz zum Wohnen ist, leben doch die ungewöhnlichsten Kreaturen dort: Würmer, augenlose Krebse und andere merkwürdige Gesellen. Die Kinder nahmen sich das zum Vorbild. Sie wussten, dass schwierige und ungemütliche Zeiten auf sie zukamen und hatten sich vorgenommen, das Beste aus ihrer Situation zu machen, bis die Natur sich erholt haben würde. Wann das sein würde, konnte keiner von ihnen sagen. Vermutlich wussten nicht einmal ihre Eltern eine Antwort darauf.
Ihre eigenen Maßnahmen waren schon weit fortgeschritten, als sie bemerkten, dass auch ihre Eltern anfingen, unruhig zu werden und Vorkehrungen zu treffen. Aber die Kinder schwiegen über ihre eigenen Pläne. Sie waren zu der Ansicht gelangt, dass auf die Erwachsenen kein Verlass war. Stattdessen sei es nun an der Zeit, dass die Kinder das Kommando übernehmen würden. Sie schüttelten die Köpfe über die unsinnigen Dinge, die die Eltern in ein paar alte, ausgediente Bunker schleppten. Und als die Situation sich zuspitzte, hörten sie von den Medien, dass die, die es sich leisten konnten, mit Hilfe von Raketen auf den Mars auswanderten und keinen weiteren Gedanken an die Zurückgelassenen verschwendeten. Aber die Kinder zuckten nur mit den Schultern und fuhren unverzagt mit ihren Vorbereitungen fort.
„Was heißt das, du gehst jetzt allein los? Bist du komplett übergeschnappt?“ Fassungslos starrte die Mutter Malu an, die vor ihr in der Küche stand.
„Wir sind der Meinung, ihr habt genug angerichtet. Jetzt sind wir an der Reihe.“
Malu bemühte sich, ihre Stimme fest klingen zu lassen, aber es fiel ihr innerlich sehr schwer, diese harten Worte auszusprechen. Doch sie wusste, es musste sein. Entschlossen schulterte sie ihre Tasche.
„Ich muss jetzt los. Die Zeit drängt. Ihr müsst auch in euren Bunker gehen.“ Malu wandte sich zum Gehen, drehte sich aber hastig noch einmal zu ihrer Mutter um und umarmte sie fest. Dann rannte sie endgültig in Richtung Ausgang, bevor ihre Mutter sie aufhalten konnte.
„Ich melde mich“, brüllte sie über ihre Schulter zurück. Sie konnte hören, wie ihre Mutter hinter ihr her gestürzt kam.
„Malu? Wo gehst du hin?“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter.
„Wie wollt ihr denn allein überleben? Malu!“
Doch Malu rannte weiter. Tapfer sprintete sie weiter die Straße hinunter, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie sah, wie ihr Freund Reshi ebenfalls aus der Einfahrt seiner Eltern hervor preschte, während sein Vater hinter ihm her schrie. Auch sein Gesicht war verheult. Sie legte noch einen Zacken zu und holte ihn am nächsten Laternenpfahl ein. Schluchzend rannten sie nebeneinander her, bis sie einen kleinen Waldweg erreichten und hinter ein paar hohen Sträuchern aus dem Blickfeld verschwanden. So nahe der Stadt hatte das Feuer noch keine Chance gehabt, weil die Anwohner den Boden immer noch fleißig wässerten. Hier legten sie eine kurze Verschnaufpause ein. Wortlos legten sich die beiden Freunde den Arm über die Schultern und fanden so etwas Trost beieinander.
„Das war hart“, flüsterte Malu. Reshi nickte stumm. Er unterdrückte noch neue Tränen, die ihm im Halse steckten.
„Ich hoffe, sie werden o.k. sein“, murmelte Malu vor sich hin und warf einen besorgten Blick zurück. Dann trotteten sie den kleinen Pfad entlang und verwischten dabei sorgfältig ihre Spuren. Kurz darauf fanden sie einen der Eingänge zu ihrem Höhlensystem und tauchten lautlos darin unter.
Viele Monate waren seither vergangen. Die Kinder hatten sich schnell im „Schwarzen Raucher“ eingelebt. Innerhalb der Höhlen hatten Malu und ihre Gruppe kleine Unterkünfte gebaut, die sich über mehrere Stockwerke hinweg zogen und untereinander mit Strickleitern, Rutschen und Kletterwänden verbunden waren. Das Ganze sah etwas wie das Innere eines Bienenkorbes aus. Die Kinder hausten darin in kleinen Wohngemeinschaften zusammen. Jeden Morgen ertönte für alle ein Weckruf, der zum gemeinsamen Frühstück rief. Danach wurden in den einzelnen Gruppen die Aufgaben des jeweiligen Tages besprochen. Mittags wurde meistens nur ein kleiner Imbiss ausgeteilt. Erst am Abend wurde ausgiebig gegessen und gequatscht. Das Kochen übernahmen dabei reihum die verschiedenen Arbeitsgruppen. Zwischendurch gab es etwas Freizeit, um miteinander zu spielen.
Wenwen und Glinda brüteten über einer Zeichnung, die ihre Gruppe angefertigt hatte. Sie hatten die Aufgabe bekommen, für eine der Höhlen, die für den Gemüseanbau benutzt wurde, ein Sonnensegel zu bauen. In der Decke der Grotte klaffte ein großes Loch, wodurch im Augenblick noch ungehindert die gleißende Sonne und stürmischen Winde eintreten konnten. Das hinderte die frisch gesetzten Pflänzchen am ungestörten Wachstum. Malus Gruppe plante nun, einen Flaschenzug anzubringen, womit sich eine vorgehängte Abdeckungsplane bequem von unten öffnen und schließen ließe. Das war eine tüftlige Angelegenheit, aber gerade darum machte es allen großen Spaß. Sie waren gerade so richtig in ihre Arbeit vertieft, als sie urplötzlich das große Warnhorn quiekend vom Versammlungsplatz herüberschallen hörten. Erschrocken blickten sie sich an. Es war das erste Mal seit ihrer Ankunft, dass das Horn geblasen wurde. Es musste etwas Schlimmes passiert sein. Schnell rafften sie sich alle auf und rannten in die Haupthöhle hinüber.
Auf dem Weg dahin bemerkten sie gewaltsam eingedrückte Zimmerwände, die sie doch vor paar Wochen so mühselig aufgebaut hatten. Außerdem lagen Scherben und Kleidungsfetzen verstreut auf dem Boden herum. Als sie in die große Höhle traten, erblickten sie in einer hinteren Ecke einen riesigen Aufruhr. Eine Traube Kinder scharrte sich um etwas oder jemanden. Sie alle schrien wie am Spieß. Über das Ganze tönte aus einem Megaphon die Stimme von Taio, dem Geparden:„Auseinander! Geht auseinander, Leute!“
Malu beobachtete, wie sich die Spähergruppe einen Weg durch das Getümmel bahnte. Kurz darauf beruhigten sich die Kinder etwas und wichen auseinander. Nun konnte Malu endlich sehen, was die Ursache der ganzen Aufregung war. Man muss hier verstehen, dass nicht alle Kinder der Stadt Teil des „Schwarzen Rauchers“ waren. Es hatte ein Häufchen Faulenzer gegeben, die lieber ihre Zeit mit Videospielen zugebracht oder zum Spaß kleinere Kinder gequält hatten. Diese waren dann gemeinsam mit den Erwachsenen in die Bunker gezogen. Die Kinder des „Schwarzen Rauchers“ hatten ziemlich bald, nachdem sie sich in ihrem Höhlenzuhause eingenistet hatten, durch ihre Späher den Eltern Nachrichten von sich zukommen lassen. So wussten die Menschen in den Bunkern, dass die Kinder wohlbehalten in einer Höhle lebten, aber nicht wo diese sich befand. Diese großmäuligen Rabauken hatten sich anscheinend mittlerweile so sehr gelangweilt, dass sie auf Erkundungstour gegangen waren und schließlich einen Einstieg zu dem „Schwarzen Raucher“ gefunden hatten. Dort angekommen, hatten sie nach schlechter alter Gewohnheit angefangen, ihren Frust abzulassen. Die kleine Iolani, eine Wachteltaube, erzählte Reshi und Malu, dass die Kerle urplötzlich aus einem der Tunnel aufgetaucht waren und sofort begonnen hatten, gegen Dinge zu treten und die anderen Kinder herum zu schubsen. Sie hatten nur nicht mit dem starken Zusammenhalt der anderen Kinder gerechnet. Sie sahen sich nun Hunderten von Altersgenossen gegenüber, die sie aus wütenden Augen anfunkelten und die Hände zu Fäusten geballt hatten. Sie fühlten sich in die Enge getrieben und wussten nicht, wie sie sich aus dieser Zwickmühle befreien sollten. Weil ihnen nichts Besseres einfiel, versuchten sie es zunächst mit Provokation.
„Ihr Memmen! Traut euch nicht, wirklich ernst zu machen! Haut doch zu, wenn ihr euch so großartig und stark fühlt.“
Aber die Kinder beherrschten sich. Stattdessen gingen ein paar Größere aus der Spähergruppe zielstrebig auf die Ruhestörer zu und fesselten ihnen die Hände auf den Rücken. Anschließend zogen sie ihre Gefangenen unsanft zum Versammlungsplatz herüber. Die anderen Kinder folgten ihnen. Dort angekommen übernahm zunächst Finnegan das Wort.
„Was sollen wir mit ihnen anstellen?“, rief er in die Runde.
„Sie sollen einfach wieder abhauen“, gellte es von einer hohen Stimme ganz hinten aus den Reihen. Sie gehörte Felix, dem Karpfen.
„Das hilft nichts. Dann kommen sie einfach morgen oder nächste Woche wieder“, rief Hito, die Tausendfüsslerin. Reshi, dessen Gesicht ganz rot vor Zorn angelaufen war, platzte heraus:
„Sie müssen eine Abreibung bekommen!“
Er erntete zustimmendes Gemurmel von der Versammlung. Jetzt mischte sich auch Malu ein:
„Aber nicht zu doll. Es sollte etwas sein, dass unangenehm ist, aber nicht fies.“
Die Kinder nickten beifällig. Sie wollten nicht genauso gemein wie diese Typen sein. In der linken Ecke fing Dixie zu kichern an. Er war eine Heuschrecke.
„Ich hab es!“ verkündete er mit blitzenden Augen. „Lasst sie uns einfach in unsere Jauchegrube werfen.“
Die Kinder fingen schallend zu lachen an.
„Eine hervorragende Idee“, schmunzelte Leonie, eine Lemurin. Damit war es entschieden. Die Kinder hoben die protestierenden Raudies hoch und trugen sie triumphierend zu dem Graben, über dem die Kinder ihre Klos installiert hatten. Dort ließen sie die Grobiane unter großem Gejohle ins stinkende Becken platschen. Nachdem die Ärmsten sich völlig durchweicht aus der üblen Brühe hochgerappelt hatten, trieben die Kinder sie mit Stöcken zurück in den Tunnel, aus dem sie ursprünglich gekrochen waren. Dabei stimmten sie vereint den Kriegsgesang an, den sie sich eines Abends ausgedacht hatten. Er klang nicht unbedingt schauerlich, aber wenn er aus so vielen Kehlen gesungen wurde, hörte er sich recht eindrucksvoll an. Mit Genugtuung schauten sie zu, wie die Blödiane das Weite suchten.
„Ich glaube, von denen hören wir jetzt eine Weile nichts mehr“, verkündete kichernd Glinda, die neben Malu stand. Dann gingen sie gemeinsam, um sich die verursachten Schäden zu anzusehen und mit den Reparaturen zu beginnen. Ihnen kam der Zwergziegenbock Liam mit einem über alle Backen strahlenden Gesicht entgegen. In seiner freudig hochgereckten Faust hielt er eine kleine verdreckte Kartoffel.
„Es hat funktioniert“, rief er enthusiastisch in die Runde. „Unsere erste selbstgeerntete Kartoffel!“ Und die Kinder brachen ringsum in ein Freudengeheul aus, das von den Wänden zurückschallte und den Berg erzittern ließ.
Einige Wochen vergingen. Fast alle Schäden waren mittlerweile ausgebessert und das Leben im „Schwarzen Raucher“ lief ungestört vor sich hin, als erneut unerwarteter Besuch in die Haupthöhle stolperte. Es waren dieses Mal einige der Eltern aus den Bunkern. Sie war ihnen nach ein paar Fehlschlägen gelungen, den Weg wiederzufinden, den die Störenfriede zuvor genommen hatten. Nun standen sie etwas sprachlos herum und staunten, was für eine fantastische kleine Stadt sich vor ihnen auftat. Die Kinder beäugten sie zunächst etwas misstrauisch, aber ließen es zu, dass die Erwachsenen sich alles eingehend anschauten. Die Eltern bewunderten die verschiedenen Materiallager, die die Kinder angelegt hatten und die Werkstätten, die die unterschiedlichsten Sachen herstellten. Sie klopften sachte an die leichten, aber stabilen Hauswände und warfen einen Blick in die Gemeinschaftsküche sowie die Bibliothek der Kinder. Dann erbaten sie sich eine Führung durch die Landwirtschaftshöhlen und ließen sich alles haarklein erklären. Am Ende fragten sie höflich, ob die anderen Erwachsenen auch vorbeischauen dürften. Die Kinder blickten sich der Reihe nach an. Sie saßen alle wieder mit ihren Gästen auf dem Versammlungsplatz in der Mitte der Höhle. Als Erste ergriff Thea, die Skorpionin, das Wort:
„Ich denke, das könnte in Ordnung gehen. Aber nur, wenn unsere Regeln von euch anerkannt werden, solange ihr euch hier aufhaltet.“
„Und wenn ihr euch nicht in unsere Angelegenheiten einmischt“, setzte Mauro, der Weberknecht, hinzu. Die anderen Kinder murmelten ihre Zustimmung.
„Versprochen“, erwiderte Herr Ashbel, der mit gekreuzten Beinen auf der Erde saß. „Wir werden nur diejenigen schicken, die sich mit euren Hausregeln einverstanden erklären.“
„Wir sind einfach sehr beeindruckt, was ihr hier geschaffen habt“, erklärte Frau Knocke, die neben ihm auf einem Felsen hockte. „Ihr könnt mit Recht stolz darauf sein.“
Die Kinder sahen sich grinsend an. Wenwen und ein paar andere kamen aus der Gemeinschaftsküche. Sie trugen Eimer mit kühlem Quellwasser herbei, die sie an alle ausschenkten, denn obwohl der Tag bereits zu Neige ging, war es immer noch recht heiß und stickig in der Höhle. Herr Ashbel nahm dankbar einen tiefen Schluck und fuhr fort.
„Ich denke, wir könnten uns gegenseitig unterstützen ohne dass der eine den anderen bevormundet. Einige von uns Erwachsenen könnten euch mit ihren Erfahrungen zu Seite stehen. Und ihr könnt uns dafür eure Erkenntnisse mitteilen.“
Frau Williams setzte hinzu: „Hört zu, wir sehen ja, was ihr hier geschaffen habt. Das macht alles Sinn und ist klug durchdacht. Wir haben viel in der Vergangenheit falsch gemacht.“
„Alles!“ fiel ihr Greta, die Zitteraalin, ins Wort.
Frau Williams legte ihre Hand auf Gretas Schulter. „Du hast recht. Wir waren dumm und haben auf die falschen Leute gehört. Jetzt seid ihr am Ruder. Und so soll es auch sein. Es ist eure Zukunft. Lasst uns euch dabei helfen, diese Zeit zu überstehen und einen Neuanfang zu machen. Bitte!“
„Und natürlich habt ihr bei allem das letzte Wort“, fügte Herr Kumar hinzu. Er sah in die zweifelnden Gesichter der Kinder und hob beschwichtigend die Hände.
„Sehen wir es als ein Experiment. Wenn wir uns daneben benehmen, schmeißt ihr uns eben wieder raus.“
„Oder in die Jauchegrube“, hakte Frau Knocke nach und zwinkerte den Kindern zu. Daraufhin fingen sie alle miteinander zu lachen an und damit war die Sache entschieden. Die Eltern verabschiedeten sich von ihren Kindern, winkten den anderen zum Abschied zu und stiegen wieder in den Tunnel hinab.
Und so kam es, dass nach und nach immer mehr Eltern den Gang in den „Schwarzen Raucher“ machten. Es war zunächst für viel nicht immer ganz einfach, ihre alten Gewohnheiten abzulegen. Aber wenn sie begannen, den Kindern Vorschriften zu machen, bemerkten sie zum Glück schnell ihren Irrtum. Sie entschuldigten sich dann und bemühten sich um ein besseres Verhalten. Nach einer Bewährungsfrist gestatteten die Kinder ihnen, aktiv in ihren Gruppen mitzuarbeiten. Manche zogen sogar komplett in die Höhlen der Kinder ein. Die Kinder waren nach der anfänglichen Skepsis froh über die Unterstützung und vor allen Dingen glücklich, ihren Eltern wieder nahe zu sein. Manche Erwachsene übernahmen sogar die Idee mit der Tierpatenschaft. Am Anfang war es Malu merkwürdig vorgekommen, ihren früheren Mathematiklehrer, der Teil ihrer Baugruppe geworden war, anzuleiten, wie man die wabenförmigen Höhlenwohnungen ausbesserte. Genauso wunderte sie sich über ihre ehemalige griesgrämige Nachbarin Frau Grothe, die nun vergnügt Kartoffeln mit den Kindern aus der Erde grub. Eines Tages schlichen sich auch die ehemaligen Unruhestifter erneut in die Höhle. Aber dieses Mal verhielten sie sich respektvoll und baten ebenfalls um Arbeit. Die Kinder steckten sie getrennt voneinander in verschiedene Gruppen, weil ihnen das sicherer erschien. Zur Überraschung aller integrierten sie sich mit der Zeit recht gut. Allerdings konnten es sich die Kinder nicht verkneifen, ihnen einen kleinen Streich mit den Tierpatenschaften zu spielen und teilten ihnen besonders Unmögliche wie Grinsekatze, Einhorn oder Osterhase zu. Etwas Rache musste schließlich sein.
So gingen Jahre ins Land. Die Kinder wurden erwachsen und bekamen eigene Kinder. Aber selbst als sie Eltern wurden, beherzigten sie das gleiche Prinzip, welches sie einst aufgestellt hatten. Die Kinder hatten das Sagen und die Erwachsenen ordneten sich ihren Entscheidungen unter.
Es war Mittwochnachmittag und Malu klopfte gerade etwas Lehm an einer Zimmerwand fest. Da sah sie ihren Sohn Oskar, der mittlerweile zu einer Spähertruppe gehörte, aufgeregt mit seinen Freunden in die Höhle rennen.
„Alle zur Versammlung!“ rief er mit erhobener Stimme. „Alle zur Versammlung!“
Kinder und Erwachsene scharrten sich neugierig um den Versammlungsplatz und warteten gespannt, was die Gruppe zu vermelden hatte. Oskar, der eine Hyäne war, wurde von seinem Freund Karim, dem Walross, nach vorne gestupst. „Sag du“, flüsterte er ihm zu. Oskar holte Luft und legte los:
„Wir haben alle in den letzten Wochen bemerkt, dass die Stürme sich gelegt haben und das Wasser zurückgegangen ist. Heute waren wir weit draußen in der Ebene vor der leeren Stadt.“
Afzal, der Eisbär der Truppe, konnte nicht mehr an sich halten:
„Wir haben Wildtiere gesehen!“
Ein Raunen ging durch die Versammlung.
„Echte Tiere. Ein Reh und und…“
„Ein Wildschwein“, ergänzte Oskar.
„Wisst ihr, was das bedeutet?“, sagte Reshi und hob seine kleine Tochter auf den Schoss. Malu wandte sich ihrem alten Freund zu und erwiderte:
„Ja. Die Natur erholt sich.“
Und alle schwiegen, ergriffen von dieser Neuigkeit, aber ihre Augen leuchteten. Dann stimmten sie ihren alten Kriegsgesang an, der über die Jahre ein Ausdruck ihrer gemeinsamen Verbundenheit geworden war, und blickten voller Hoffnung nach draußen ins Freie.
Wow, hat mich tatsächlich berührt….
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