In einer längst vergessenen Zeit wanderte eine alte, nackte Frau über die Dörfer und in die Städte hinein. Ihr Gesicht war zerklüftet wie ein Felsbrocken und ihr Körper hager und unansehnlich. Auf dem Kopf wehten ein paar dünne Haarsträhnen im Wind und beim Gehen stützte sie sich auf einen langen, knorrigen Stock. Mit dem schlug sie an die Türen der Behausungen der Dorfbewohner und rief mit krächzender Stimme, man solle ihr zuhören. Doch die Menschen öffneten ihre Türen nicht und hielten sich fest die Ohren mit beiden Händen zu. Denn die alte Frau war die harte, nackte Wahrheit und keiner wollte sie so richtig kennenlernen. Doch die Greisin gab nicht auf. Als sie eines Tages einen Bauern auf dem Feld erwischte, rannte sie zeternd hinter ihm her und hieb ihn mit dem Stock auf den Rücken, in der Hoffnung, seine Ohren würden dadurch durchlässiger für ihre Reden werden. Doch der Bauer steckte den Kopf geschwind in einen Maulwurfshügel und wartete bis die Alte enttäuscht von dannen zog. Oder einmal stellte sie sich auf den Rand eines Dorfbrunnens und schüttete kaltes Wasser auf alle, die ihr zu nahe kamen, auf dass sie ihr Gehör schenken müssten. Doch die Menschen warfen einen groben Sack über sie, schleppten sie darin eingerollt in den nächsten Wald und überließen sie dort ihrem Schicksal. So zog sie viele, viele Jahre immer weiter und weiter und schrie ihr Wissen in die Welt hinaus, auch wenn niemand es hören wollte.
Eines Tages erreichte sie eine Stadt, in der sie nie zuvor gewesen war. Sie sah die Einwohner geschäftig in ein- und dieselbe Richtung eilen. Neugierig schlurfte sie hinterdrein, um die Ursache herauszufinden. Es stellte sich heraus, dass gerade Markttag war. Alle Menschen strömten auf den großen Platz, um ihre Waren anzubieten, zu feilschen und andere Dinge neu zu erwerben. Aber noch etwas sah die alte Wahrheit dort. An einer Ecke des Marktes war eine Bühne aufgebaut. Darauf tanzte ein Mann in einem wallenden Gewand auf und nieder, während er schier unglaubliche Sachen erzählte. Ab und an verschwand er scheinbar ins Nichts und tauchte dann vor den verblüfften Augen seiner Zuschauer wieder daraus hervor. Vor der Bühne hatte sich eine Menge an Schaulustigen versammelt, die ihre Augen nicht von ihm ablassen konnten. Die Wahrheit ließ sich am Rand der Bühne nieder und beobachtete interessiert die Darbietung. Es war unmöglich festzumachen, ob der Mann alt oder jung, schön oder hässlich war. Denn sein Gesicht und seine Gestalt schienen sich bei jeder Drehung und Wendung zu verändern. Auch die Farbe seiner Kleidung wandelte von Augenblick zu Augenblick. Wann immer man meinte, einen Grundton ausgemacht zu haben, schien dieser auch schon wieder vergangen zu sein. Zudem wirkte sein Kleid fadenscheinig und undurchsichtig zugleich. Es war ein gar merkwürdiger Anblick. Die Wahrheit rieb sich die Augen, die vom angestrengten Hinsehen zu flirren begannen und konzentrierte sich lieber auf die Worte des Schaustellers. Seine Geschichten waren gleichsam haarsträubend und liebenswert. In einem Moment gab er Bösartiges von sich, dann streute er einige absurde Bemerkungen ein und dann wiederum umschmeichelte er seine Zuhörer mit Komplimenten und süßen Reden. Die nackte Wahrheit schaute auf die Menschenmenge vor der Bühne und musste zugeben, dass der eigenartige Mann sein Publikum mit dieser Darbietung für den Moment zu fesseln wusste. Sie sah aber auch, dass irgendwann ein jeder von den verwirrenden und schwankenden Bühnenreden genug hatte und etwas verwirrt nach Hause ging. Doch sie selbst blieb sitzen bis der Abend kam und die Händler ringsum begannen ihre Stände abzubauen. Auch der schillernde Darsteller ging von der Bühne ab und zog sich in sein Zelt zurück, welches er ein wenig abseits aufgeschlagen hatte. Die Wahrheit stellte sich vor den Eingang und pochte mit ihrem Stab dreimal kräftig auf den Boden, da es keine solide Tür zum Anklopfen gab.
„Herein!“, drang süß und flüsternd die Antwort hinter den Zeltwänden hervor. Die Wahrheit schlug die Zeltplane am Eingang zurück und trat ein. Dort saß der Darsteller an einem Tisch, nun seines Gewandes beraubt und kaum wieder zu erkennen. Denn hier sah er wesentlich gewöhnlicher und plumper aus, als die Wahrheit es erwartet hatte.
„Wer bist du?“, krächzte sie ihm entgegen. Der Mann sah sie ruhig mit seinen zwielichtigen Augen an und sprach: „Ich bin die Lüge.“
Die ganze Nacht saßen Wahrheit und Lüge beisammen und redeten miteinander. Und als der Morgen graute, zogen sie nun gemeinsam los. Seitdem wandern sie gemeinsam durch die Welt und erzählen den Menschen Wahrheit oder Lüge, je nachdem, was diese bereit sind zu hören. Und sie bekamen ein Kind, welches beider Eigenschaften in sich vereinigte. Sie nannten es das „Märchen“.
Mein besonderer Dank geht an Nicola Knappe, die mir in ihrem Erzählworkshop 2020 eine Version dieser Geschichte erzählte und mich ermutigte, meine eigene Variante zu finden. (www.erzaehlklang.de)