Ich besuche meinen guten Freund Yaël, irgendwo nahe der deutsch-französischen Grenze. Seiner Tochter Isa habe ich eine Spielzeug-Raupe mitgebracht. Doch die Kleine würdigt das hölzerne Tier keines Blickes, untersucht stattdessen aber freudig die Schachtel, in der die Raupe bis vor wenigen Minuten verpackt gewesen ist. Sie fährt kratzend mit ihren Nägeln über den Pappkarton, klopft rhythmisch mit dem Ding auf dem Boden herum, zieht ihn sich über den Kopf oder versucht, sich in die viel zu kleine Box reinzusetzen…
Ich sehe ihr zu und denke: Schau mal an! Das ist noch ein Alter, wo man sich über so ein Kastensystem freut. Das ist also noch die Zeit, wo man das Maximale aus einer vertrackten Kiste herauszuholen versucht.
Aber mit der Zeit wird einem eingebläut, dass es damit nicht genug sein kann. Man hat bestimmte Dinge zu wollen und andere beiseite zu lassen. Das geht bereits mit der ersten Stiftebox für den Kindergarten los. Denn dann heißt es: Achtung, jetzt kommt ein Karton! Und von da ab rappelt nichts mehr in der Kiste. Nach dem Kindergarten kommt die Schule, nach der Schule kommt die weiterführende Schule, nach der weiterführenden Schule kommt dann eine Ausbildung oder aber ein Studium und zwar ein Vernünftiges bitteschön! Denn das Runde muss in das Eckige, und was nicht passt, das wird dann eben passend gemacht.
Wir rennen kopflos im Karree, kreuzen brav die richtigen Kästchen in unseren Formularen an und werden zusammengestaucht bis wir uns endlich brav und ohne Murren in die gesegnete gesellschaftliche Ordnung eingliedern. Man faltet uns ordentlich zusammen bis uns alle Rosinen aus dem Kopf gefallen sind und wir nur noch eine viel zu harte und dazu noch langweilige Alpenmilch-Ritter Sport abgeben: quadratisch, praktisch, gut…
Aber nein, das reicht noch nicht, auch der ganze Kopf muss ein Kasten werden, ein Kastenkopf per excellence, eine kastenförmige Kommode bestehend aus vielen, verschiedenen, groß-kleinen Schubladen und Ablagefächerchen.
Denn sowohl Galileo als auch die „Flat Earther“ haben unrecht: Unsere Welt ist weder Kugel noch Scheibe, sondern ein Quadrat. Und dafür wird unser Leben von uns eigenhändig seziert, katalogisiert und schließlich feinsäuberlich da oder dort einsortiert. Und je mehr wir das tun, desto mehr verformen wir uns um reinzupassen in diese Welt, um ja nicht an-zu-ec-ken.
So verformen wir uns bis zur Unkenntlichkeit unserer Selbst, mutieren zu einem menschlichen Abbild mit Ecken und mit Kanten, werden zu einem exquisiten Exemplar des sogenannten humanus quadratus oder laienhaft ausgedrückt, ein absolut formidabler quadratischer Dickschädel.
Doch manchmal, da packt uns die Sehnsucht und wir pressen uns an ein vereinzeltes Atemloch in unserem Karton und lassen uns den Wind um die Nase wehen. Oder wir gönnen uns einen kurzen Boxenstopp, vielleicht durch eine Reise, vielleicht durch eine Begegnung der anderen Art, wo wir es wagen, den Deckel unserer vermaledeiten Kiste einen kleinen Spalt anzuheben und vorwitzig hinauszuspähen.
Aber dann folgt wieder der Alltagstrott. Wir glauben den Blödsinn, den man uns erzählt, dass wir glücklicher wären, wenn wir diesen und nicht jenen Job hätten, dass man uns mehr lieben würde, wenn wir dünner oder dicker, größer oder kleiner, ernster oder lustiger, klüger oder dümmer wären. Und so vergeuden wir unser Leben in der Warteschlange vor dem vermeintlichen Paradies, dass man uns versprochen hat und dass doch niemals kommt.
Und dabei hatten wir doch damals, als Kind, nur Spaß mit unserer ganz eigenen Kiste haben wollen. Aber stattdessen sind wir den Brotkrumen durch den düsteren Wald gefolgt und haben dabei unser Leben vergiftet, luftdicht abgepackt und für den späteren Genuss nach der Rente portioniert.
Nur manchmal, wenn wir mit jemanden in der Kiste landen und unser Herz unverschämt laut pocht, wittern wir wieder die Freiheit. Doch dann kommt der Tag, bei einem romantischen Abendessen, da streckt uns dieser jemand eine Schachtel entgegen. Darinnen liegt die Quadratur des Kreises, denn auch das sollen wir wollen. Und dann zieht man in einen größeren, weil gemeinsamen 3-Raum-Wohnungs-Karton und drückt an den eigenen Kindern herum bis diese auch in die Quadratwelt passen. Und wir schauen tagtäglich auf die rechteckig-flimmernden Screens unserer Laptops und Smartphones, die unser Leben widerspiegeln und unsere Weitsicht mittels Algorithmen beschränken. Manchmal fordert man uns in Teammeetings im Büro dazu auf, „to think outside of the box“. Aber bitte das alles im Rahmen. Wo kämen wir denn da hin? Was anderes kommt gar nicht in die Kiste. Wir kaufen vermeintliches Glück abgepackt in Kleiderschachteln und Schuhkartons. Und bleiben selbst dabei immer leerer zurück.
Und wir fühlen uns wie Schrödingers Katze. Wir hocken in unserer Box mit unserem unstabilen Atomkern, einem zusammengepressten Herzen, das jeden Moment implodieren kann. Und wir vergiften alle um uns herum, die noch eigenständige Träume haben, die noch nicht ins System passen. Denn ihre Existenz macht uns schmerzlich bewusst, was wir versäumt haben. Und wir kratzen und beißen wild um uns, wenn ein solcher Mensch uns an die Hand nehmen und uns aus unserer Kiste in die Freiheit entlassen will. Voller Angst vor unseren Möglichkeiten bleiben wir in unserer Schublade sitzen, sind gleichzeitig tot und lebendig.
Hutzeln selbst zu einer alten Schachtel zusammen beim Warten auf ein Happy End, das alles endlich rechtfertigen soll. Bis endlich unsere Herzkranzgefäße explodieren und wirklich und wahrhaftig den Rahmen sprengen. Und mit Tatütata rasen wir durch eine Nacht, die kein Ende mehr nehmen wird. Dann fahren wir endgültig in die Grube und bleiben nun auf ewig in der Kiste. Und ich sehe, wie die kleine Isa ihren Pappkarton mit Lust und Elan in Stücke zerreißt und nicke ihr anerkennend zu.
Wow, ja ja ja! Oder vielmehr Nein! Nein! Nein! zum quadratleben.
„to think outside of the box“ ist das abgedroschenste Ami-Mem.
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