Mörtel und Steine

Es sind nur Mörtel und Steine, sage ich mir. Und weiß doch, dass ich mich dabei belüge. Das wäre so als würde jemand sagen: Die Sonja. Das ist doch nur Gewebe, Schleim und Blut. Es stimmt schon, zum Teil. Aber eben nur zum Teil.
Es sind nur Mörtel und Steine. Das ist es nicht einmal für unsere Käufer. Für sie ist unser Haus Spekulationsobjekt, Kapitalanlage und/oder Geldmaschine.

Es sind nur Mörtel und Steine. Was wirklich zählt, sind die Menschen, meine Mitbewohner und Nachbarn, sage ich mir. Und das stimmt schon, zum Teil. Aber eben nur zum Teil. Natürlich habe ich hier wunderbare Menschen kennengelernt. Menschen, die meine Wahlfamilie geworden sind. Menschen, die mir mit Toleranz und Offenheit begegnet sind. Menschen, die schwierige Zeiten mit mir durchgestanden und freudige Zeiten mit mir gefeiert haben.

Es sind nur Mörtel und Steine. Als ich das erste Mal vor 19 Jahren spätnachts nach Hause kam und in den leisen Flur eintrat – an der dunklen Korridordecke strahlte eine Lichterkette wie ein Sternenhimmel – da fühlte ich eine Geborgenheit und einen Frieden, den ich mein ganzes Leben lang vermisst hatte. Ich wusste, das war endlich mein Zuhause. Und sicher lag das auch an meinen Mitbewohnern. Aber es war auch dieser lange gewundene Flur, der in die große WG-Küche mit ihren großen rund-blauen Tisch führte. Es war der Balken, an dem ich mich kurz nach meinem Einzug auf dem Hochbett stieß. Es war der Putz, der abblätterte, wenn man frische Farbe darüberstrich. Es waren die großen Fabrikfenster, durch die die Sonne im Sommer hereinknallte und die Mitbewohner auf der einen Seite am Morgen schweißgetränkt im Bett aufwachen ließ, während die auf der anderen Seite, wenn die Sonne dorthin gewandert war, sich am Nachmittag bei offenem Fenster am Schreibtisch sonnen konnten. Und es war die Heizung, bei der man den Schniepel immer wieder mit der Zange herausziehen musste, weil er wieder festsaß. Es war der fröhliche kleine Dino, der mich über den ersten Treppen im Parterre von der grauen Wand angrinste. Und es war das alte „Sports Gym“-Leuchtschild, das mir anzeigte, dass ich im dritten Stock angekommen war.

Es sind nur Mörtel und Steine. Als ich ein paar Jahre später auszog, lag es nicht am Haus, sondern an meinem damaligen mangelnden Vertrauen zu meinen Mitbewohnern. Meiner Unfähigkeit, in einer für mich persönlich schwierigen Situation um Hilfe zu bitten. Denn Verhalten, eingeübt in der Kindheit, zu verlernen, ist schwer. Doch schon anderthalb Jahre später zog ich wieder ein. Denn mein Zuhause war immer noch mein Zuhause. Die Mitbewohner hatten sich zum großen Teil geändert, das Haus war dasselbe geblieben.

Es sind nur Mörtel und Steine. Als ich das zweite Mal auszog, glaubte ich, dem Haus entwachsen zu sein. Ich zog durch die ganze Welt und dachte, irgendwo würde ein Ort zu mir sprechen. Würde mir sagen, er könne zukünftig mein Zuhause sein. Ich suchte und suchte, in Brasilien, in Island, in Russland, in Litauen, ich suchte und suchte… und fand ihn nicht. Erschöpft kehrte ich zurück nach Berlin. Ich wohnte mal hier, mal dort. Zum Teil waren das schöne Wohnungen, doch es trieb mich wieder fort.

Es sind nur Mörtel und Steine. Dann hörte ich, das Haus würde verkauft. Mit aufgewühltem Herzen stand ich auf der ersten Demonstration. Ich kannte kaum einen der jetzigen Bewohner, aber das Haus war dasselbe. Und ich spürte in mir den Wunsch, wieder so zu wohnen. Ich suchte im Internet und fand eine Anzeige. Die Adresse kam mir bekannt vor…

Es sind nur Mörtel und Steine. Manche Freunde amüsiert es, dass ich schon zum dritten Mal hier wohne. In den ersten Wochen zurück merkte ich, wie mein Körper sich erinnerte. In der Küche schaute ich ständig über die Schulter an eine ganz bestimmte Stelle an der Wand. Ich wusste nicht warum, aber verstand schließlich, dass ich unbewusst die Küchenuhr suchte, die in der alten WG eine Etage höher hing. Oder die Erinnerung meines Fußes, der unwillkürlich und ohne Nachzudenken half, die schwere stählerne Eingangstür von innen aufzuschieben. Die Sicherheit, wenn mitten auf der Treppe stehend, das Licht erlosch und ich im Dunkeln tastend sofort den altvertrauten Lichtschalter fand.

Und ich merkte, ich habe meine Spuren in diesem Haus hinterlassen. Und es hat dasselbe in mir getan.

Es sind Mörtel und Steine. Aber es sind auch Menschen. Es sind Erinnerungen. Und es sind Lebensmomente wie dieser hier. Aber vor allem ist es Zuhause. H48 bleibt.

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